Innovationsprojekt «Geschwindigkeitsreihe v+»
Erhöhung der Talfahrtgeschwindigkeit auf Zahnstangenstrecken bei der MGBahn
«v+» steht für höhere Geschwindigkeit, wobei «v» physikalisch für die Geschwindigkeit steht. Ziel ist es in Zahnstangeabschnitten die Talfahrtgeschwindigkeit zu erhöhen.
Mit tatkräftiger Unterstützung von Stadler Rail und dem Bundesamt für Verkehr (BAV) konnte die MGBahn das im Jahr 2021 gestartete Forschungsprojekt «Geschwindigkeitsreihe v+» erfolgreich umsetzen. Am 15. und 16. August 2024 fand die abschliessende BAV-Abnahme statt.
Heute wird auf Zahnstangenstrecken die maximale Talfahrtgeschwindigkeit aufgrund des Gefälles begrenzt und ist bei modernen Fahrzeugen aus Sicherheitsgründen niedriger als die Bergfahrtgeschwindigkeit. Mit der erfolgreichen Umsetzung dieses Innovationsprojekts kann die maximale Talfahrtgeschwindigkeit je nach Gefälle um bis zu 50 % erhöht werden.
Künftig können die ORION-Triebzüge auf den Streckenabschnitten Andermatt-Göschenen, die ein Gefälle von 181‰ aufweisen, mit bis zu 30 km/h talwärts verkehren. Bisher war die Maximalgeschwindigkeit dieser Züge auf 21 km/h begrenzt. Im Vergleich dazu verkehren die KOMET-Triebzüge aus den Jahren 2007 und 2014 auf denselben Streckenabschnitten lediglich mit 15 km/h.
Projektstand
Der ORION ABeh8/12 Nr. 312 diente als Prototypfahrzeug und wird ab November 2024 auf dem Streckennetz der MGBahn kommerziell eingesetzt. Die 2. Beschaffungsetappe mit 25 ORION Triebzügen wird ab Anfang 2026 direkt «v+» tauglich ausgeliefert.
Nach Auslieferung und Inbetriebsetzung der ersten Fahrzeuge der 2. Beschaffungsetappe werden die ORION der 1. Beschaffungsetappe (ABeh8/12 Nr.301-311) identisch umgebaut.
Nutzen – Produktivitätssteigerung, Fahrplanstabilität und Fahrplanoptimierungen
Dank Erhöhung der Talfahrtgeschwindigkeit reduziert sich die Fahrzeit von Andermatt nach Göschenen um bis zu 4 Minuten. Damit kann je nach Bedarf zwischen Andermatt und Göschenen ein 1/2h Takt mit nur einem Fahrzeugumlauf gefahren werden. Vorerst dient die Zeitersparnis jedoch der Stabilisierung des Fahrplans und zur besseren Anschlusssicherung.
Der Kunde profitiert durch «v+» von kürzeren Fahrzeiten und angepassten Angebotskonzepten. Identische Fahrgeschwindigkeiten bei Berg- und Talfahrt erlauben eine symmetrische Fahrplangestaltung und damit ausgeglichene Umsteigezeiten z.B. in Disentis und Andermatt. Langfristig erfolgt so eine effizientere Nutzung der vorhandenen und zukünftigen Kreuzungsstellen und Bahnhofsanlagen.
Technik
Das aktuell gültige Regelwerk ist die EBV und AB-EBV 2024. Diese definiert, dass ein Zahnradbremssystem über zwei voneinander unabhängige mechanische Bremssysteme verfügen muss. Beide dieser Systeme müssen dazu imstande sein, das Fahrzeug zum Stehen zu bringen. Des Weiteren definiert das Regelwerk, dass hinsichtlich Entgleisungssicherheit eine Überlagerung der Bremskräfte beider Bremssysteme berücksichtigt werden muss.
Aktuell beschränken folgende Vorgaben die maximale Fahrgeschwindigkeit talwärts:
- • Die maximalen Talfahrgeschwindigkeiten über die Geschwindigkeitsreihen I bis III sind im Regelwerk abhängig vom Gefälle fixiert.
- • Der maximal mögliche thermische Energieeintrag durch Bremsvorgänge in die mechanische Bremsausrüstung ist limitiert. Eine Erhöhung des Eintrags, wie dies bei einer Bremsung mit erhöhter Talfahrgeschwindigkeit der Fall wäre, würde die Bremsen überlasten und dadurch schädigen.
- • Die maximale übertragbare Bremskraft ist aufgrund der Entgleisungssicherheit limitiert. Gemäss dem gültigen Regelwerk wird für die Berechnung der Entgleisungssicherheit sowohl der zu erreichende Sicherheitsfaktor als auch die Überlagerung der Bremskräfte beider Bremssysteme gefordert. Somit ist eine Erhöhung der Bremskraft nicht umsetzbar.
- • Die elektrodynamische Bremse (Motorbremse) ist für die Beharrung bei der Talfahrt notwendig, darf aber für die oben aufgeführten Bremsungen nicht angerechnet werden.
Um die Fahrgeschwindigkeit von Zahnradbahnfahrzeugen anheben zu können, muss die Konzeption deren Bremsen angepasst werden, damit die durch die Geschwindigkeitserhöhung zusätzlich anfallende Bremsenergie zu keiner thermischen Überlastung der mechanischen Bremse führt. Das neue Bremssystem v+ zeichnet sich unter anderem damit aus, dass die bisher zwei mechanischen Bremssysteme zu einem zusammengefasst sind. Das Bremssystem v+ ist technisch so abgesichert, dass ein redundantes, zweites mechanisches Bremssystem auf dem Fahrzeug nicht mehr nötig ist. Aus diesem Grund gibt es den ungünstigen Zustand einer Doppelbremsung physikalisch nicht und es erfolgt eine verbesserte Bremskraftverteilung auf dem Fahrzeug.
Es gibt folgende 3 Bremsarten: Betriebsbremse, Schnellbremse & Rettungsbremse
- • Die Betriebsbremse besteht aus einer Kombination von elektrischer und mechanischer Bremskraft.
- • Die Schnellbremsung besteht bei «v+» aus 1/3 mechanischer und 2/3 elektrischer Bremskraft. Die Verzögerung wird mit der elektrischen-Bremse auf 1.2m/s2 geregelt.
- • Die Rettungsbremsung ist rein mechanisch, es werden alle Bremsen mit der maximalen Bremskraft angelegt. Die resultierende Verzögerung ist zwischen 1.7 … 2.4m/s2, abhängig vom Gefälle und Beladung.
Ein thermisches Modell überwacht die Temperatur der Bremssysteme und verhindert einen unsicheren Zustand. Die hohe Redundanz der Systeme führt zu einer ausserordentlich hohen Verfügbarkeit und Sicherheit.
MGBahn und Stadler haben gegenüber dem BAV die erforderlichen Sicherheitsnachweise erbracht und dabei aufgezeigt, dass mit v+ die Sicherheit im Betrieb jederzeit gewährleistet ist. In der Folge passt das BAV nun das entsprechende Regelwerk an. Im Regelwerk AB-EBV 2028 wird v+ enthalten sein.
Beitrag BAV
Die Transportunternehmen (TU) müssen sich stetig an neue technologische und soziologische Trends anpassen. Um neue Lösungen zu entwickeln und Versuche durchzuführen fehlen oft die finanziellen Mittel.
Das Forschungsprogramm des BAV ermöglicht im regionalen Personenverkehr (RPV) diesbezüglich für die TU neue Möglichkeiten, indem es eine spezifische Finanzierung à fonds perdu für Pilotprojekte vorsieht. Die getesteten Lösungen sollen einen konkreten Mehrwert für die Kunden leisten und/oder den Kostendeckungsgrad verbessern.
Die Innovation «v+» wurde durch die MGBahn, Stadler Rail und das BAV vorangetrieben und finanziert. Das BAV unterstützte das Projekt mit insgesamt CHF 3.3 Mio. Auch andere Zahnradbahnen in der Schweiz können künftig von den gewonnenen Erkenntnissen profitieren.
Magazin des Bundesamt für Verkehr
Einblick in die Forschung und Innovation im öffentlichen Verkehr - Berichtsjahr 2023